Es waren turbulente Monate, die Johann Sebastian Bach vor 300 Jahren durchlebte: Im August 1717 wurde er zum neuen Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen ernannt und bereits mit einer ersten Geldzuwendung bedacht. Angestellt war Bach freilich noch als Konzertmeister des Weimarer Herzogs Wilhelm Ernst, der ihn nicht so einfach ziehen lassen wollte. Die Angelegenheit eskalierte im Herbst, als Bach mit „Halßstarriger Bezeugung“, also wohl ein wenig zu forsch, seine sofortige „Dimission“ einforderte und dafür vier Wochen im herzoglichen Arrest verbringen musste. Die Entlassung aus dem Weimarer Hofdienst erfolgte dann Anfang Dezember „in Ungnade“, worauf Bach mit seiner Frau und vier Kindern der thüringischen Residenzstadt schnellstmöglich den Rücken kehrte und in Köthen einen neuen Lebensabschnitt begann.
Das war aber offensichtlich noch nicht alles: Just in diesen aufregenden Herbst 1717 fällt eine weitere Episode, die später in jede noch so knappe Bach-Biographie aufgenommen wurde: der nicht zustande gekommende musikalische Wettstreit Bachs mit dem französischen Tastenmusikvirtuosen Louis Marchand (1669–1732) in Dresden. Das erste schriftliche Zeugnis darüber stammt aus dem Jahre 1739 und wurde von dem Leipziger Rhetorik-Dozenten Johann Abraham Birnbaum verfasst. Demnach hielt sich Bach zeitgleich mit Marchand am Dresdner Hof auf und forderte den französischen Musikerkollegen „durch ein höfliches Schreiben […] zur Gegeneinanderhaltung beyderseitiger Stärke auf dem Clavier“ auf. Marchand stimmte zu, erschien dann jedoch überraschenderweise nicht zum Wettstreit, sondern war bereits „bey früher Tageszeit mit der geschwinden Post aus Dreßden verschwunden“. Die Gründe für diese übereilte Abreise waren für Birnbaum sonnenklar: „Sonder Zweifel mogte der sonst so berühmte Franzose seine Kräfte zu schwach befunden haben, die gewaltigen Angriffe seines erfahrnen und tapfern Gegners auszuhalten.“
So weit, so gut. Es hätte eine hübsche Bach-Anekdote unter vielen werden können. Nach Bachs Tod aber wurde der ausgefallene Dresdner Wettstreit in den verschiedensten Quellen zu einem geradezu essentiellen Ereignis aufgebauscht. Im Nekrolog auf Bach, der 1754 unter Federführung von Carl Philipp Emanuel Bach entstand, nimmt die stark ausgeschmückte Episode gleich mehrere Seiten ein. Als „Drahtzieher“ wird hier der Dresdner Hofgeiger Jean-Baptiste Volumier genannt, der Bach aus Weimar eingeladen hatte, um „mit dem hochmüthigen Marchand einen musikalischen Wettstreit […] zu wagen“. Die Motive des Herrn Volumier waren nicht eben uneigennützig: Er wollte damit die geplante Einstellung des in Dresden offenbar ungeliebten Marchand in die Sächsische Hofkapelle verhindern. Der Plan ging auf und Bach hatte – wie die Autoren des Nekrologs in militärischer Diktion zu berichten wissen – als „alleiniger Meister des Kampfplatzes […] Gelegenheit genug, die Stärcke, mit welcher er wider seinen Gegner bewafnet war, zu zeigen.“ Den vorgesehen Lohn von 500 Talern allerdings erhielt Bach für diesen kampflosen Sieg nicht.
Diese blumigen Erzählungen machten Schule: Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts finden sich noch rund 20 weitere Quellen, die über die „Catastrophe in Dresden“ (Friedrich Wilhelm Marpurg) berichten. Und dennoch stellt sich bis heute die ernsthafte Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Berichte.
Kein Zweifel besteht darüber, dass Louis Marchand im Herbst 1717 tatsächlich in Dresden weilte, ist doch dieser Aufenthalt auch aus anderen Quellen belegt. Marchand galt zu dieser Zeit als hervorragender Orgel- und Cembalovirtuose, gehörte zum Hofstaat Ludwigs XIV. und befand sich auf einer längeren Reise durch die deutschen Lande. Möglich ist auch, dass August der Starke ihn für eine Mitwirkung in seiner international besetzten Hofkapelle vorgesehen hatte. Der Aufenthalt Bachs zur selben Zeit in Dresden ist ebenfalls glaubwürdig, hielt er doch zu dieser Zeit bereits Kontakte zu einigen sächsischen Hofmusikern. Schließlich waren auch musikalische Wettbewerbe zur Unterhaltung eines interessierten Publikums im 18. Jahrhundert nicht unüblich, wie entsprechende Beispiele aus Rom (Händel vs. Domenico Scarlatti) oder Wien (Mozart vs. Clementi) zeigen.
Allerdings existiert neben Birnbaums Bericht keine weitere frühe Quelle, die auch nur in einem Nebensatz den verhinderten Cembalo-Kampf an der Elbe erwähnt. Und Johann Abraham Birnbaum ist in diesem Falle alles andere als ein neutraler Chronist, denn seine Schrift von 1739 ist in enger Zusammenarbeit mit dem Thomaskantor entstanden. Demzufolge muss es Bach höchstselbst gewesen sein, der die Marchand-Anekdote in Umlauf gebracht hat. Hätte er es in dieser Zeit als weit bekannter Komponist nötig gehabt, die Geschichte komplett zu erfinden? Wohl kaum. Welche Details aber dieser Begebenheit von 1717 hat er vergessen, bewusst weggelassen oder schmückend hinzugefügt? Und auf welcher Quellenbasis kommt Carl Philipp Emanuel Bach im Nekrolog dazu, die Episode derart in die Länge zu ziehen?
Somit wird sich vermutlich nie restlos aufklären lassen, ob Marchand tatsächlich angesichts der drohenden Niederlage „mit der geschwinden Post“ das Weite gesucht hat oder ob die Anekdote allein zur Glorifizierung Bachs als europaweit führender Clavierist erfunden wurde. – Unterhaltungswert hat die Geschichte aber allemal…
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