Die Beschäftigung mit seiner Johannes-Passion hat Johann Sebastian Bach lebenslang nicht losgelassen. Von der Erstaufführung 1724 bis kurz vor seinen Tod hat der Leipziger Thomaskantor das Werk mehrfach wiederaufgeführt und dabei immer wieder Veränderungen vorgenommen. Schon 1725 fügte er zwei neue Chöre und drei neue Arien ein, 1732 nahm er diese Änderungen wieder weitgehend zurück und führte das Stück 1749 mit weiteren Revisionen und Umbesetzungen erneut auf. Eine „Fassung letzter Hand“, wie sie von der Matthäus-Passion vorliegt, nahm er 1739 in Angriff, brach das Unternehmen aber aus ungeklärten Gründen schon nach den ersten zehn Sätzen ab. – Aufgeführt wird die Johannes-Passion heute meist in einer von der „Neuen Bach-Ausgabe“ vorgeschlagenen Mischfassung, einer Version also, die Bach selbst nie gehört hat. Gegenentwürfe dazu lassen sich mit den Fassungen von 1725 und 1749 erzielen.
Rechtzeitig zur Passionszeit 2020 sind nun drei Neuaufnahmen der Johannes-Passion erschienen, die jeweils auf hohem Niveau drei unterschiedliche Fassungen der Komposition präsentieren.
Collegium Vocale Gent mit der „Mischfassung“
Philippe Herreweghe, dessen Collegium Vocale in diesem Jahr sein 50-jähriges Gründungsjubiläum begeht, legt nach 1987 und 2001 nun seine dritte Einspielung der Johannes-Passion vor und entscheidet sich für die gewohnte „Mischfassung“ der Neuen Bach-Ausgabe. Es ist eine höchst durchdachte Aufnahme geworden, die viel Ruhe ausstrahlt, keine Tempi unnötig forciert und in sich sehr homogen wirkt. Der fantastische (16-köpfige) Chor singt mit der gewohnten Klarheit und in den Turba-Sätzen geradezu schlafwandlerisch sicher. Unter den Solisten ragt Dorothee Mields mit ihrem himmlisch leuchtenden Sopran heraus, aber auch der Bassist Peter Kooij (der schon bei der Aufnahme 1987 dabei war) verdient Bestnoten. Ausgerechnet aber die Evangelistenpartie ist mit Maximilian Schmitt nicht ideal besetzt, seine Stimme bebt sehr stark und büßt damit den berichtenden Charakter ein. Im Orchester sitzen hervorragende Solisten (Marcel Ponseele, Romina Lischka, Maude Gratton), dennoch wünschte man sich zuweilen einen stärker akzentuierten Basso continuo (auf ein Cembalo wird verzichtet, die Orgel ist oftmals kaum zu hören).
Ælbgut und Wunderkammer mit der Fassung 1725
Das Ensemble Wunderkammer hat sich nicht nur für die 2. Fassung der Johannes-Passion von 1725, sondern auch für eine solistische Besetzung auf ganzer Linie entschlossen (ohne Dirigenten). Das ergibt zunächst – nach einem gewissen Moment des Hineinhörens – einen sehr direkten Klangausdruck von großer Unmittelbarkeit. Man wähnt sich als Hörer direkt im Geschehen, kann kontrapunktische Strukturen und auch manches Textdetail noch besser wahrnehmen. Allerdings birgt die solistische Besetzung auch Gefahren, so ist die Balance zwischen den Stimmen nicht immer perfekt, mal überdeckt die Oboe den Sopran, mal ist im vierstimmigen Satz die Homogenität und Intonationssicherheit nicht ganz gegeben. Auch die Turba-Chöre, die ja meist eine wütende Volksmenge darstellen, sind in solistischer Darbietung zumindest gewöhnungsbedürftig. Aufgewogen werden diese kleinen Defizite jedoch durch die überragende sängerische Leistung des Tenors Benedikt Kristjánsson, der die Evangelistenpartie enorm präsent gestaltet, durchaus mit Dramatik, aber nie mit Pathos. Und schließlich sind die 1725 einmalig hinzugefügten Chöre und Arien eine große Bereicherung.
Gaechinger Cantorey mit der Fassung 1749
Hans-Christoph Rademann hat für seine Aufnahme die letzte Fassung der Johannes-Passion gewählt, für die das originale Stimmenmaterial erhalten geblieben ist. Demnach hat Bach 1749 den Basso continuo – zusätzlich zu Cello und Kontrabass – mit gleich zwei Cembali, einer Orgel und sogar einem Kontrafagott üppig besetzt. Rademann tut es ihm nach und erreicht dadurch schon vom Fundament her einen sehr kraftvollen Klang. Auch Orchester und Chor sind stärker als bei Herreweghe besetzt, was zu einer deutlich dramatischeren Darbietung der Passionsgeschichte führt und der Intention des Komponisten vermutlich sehr nahe kommt. Trotz dieser Zuspitzung des Ausdrucks sind die Tempi nie gehetzt, und gerade in den Chorälen nimmt sich Hans-Christoph Rademann viel Zeit zum ruhigen, textbezogenen, „gemeindemäßigen“ Gesang. Chor und Orchester der Gaechinger Cantorey leisten durchweg ausgezeichnete Arbeit, aber auch die Solisten sind exquisit besetzt: Patrick Grahl singt einen hervorragenden Evangelisten voller Strahlkraft, Benno Schachtner besticht in den Altarien mit seiner anrührenden Stimme.
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